Beuys und Soddy zum Hundertsten

Beuys und Soddy

Gratulation an zwei ganz unterschiedliche Lichtgestalten:
100 Jahre Nobelpreis für Frederick Soddy und den 100. Geburtstag von Joseph Beuys!

Zwei Sonderlinge sind es wohl auch – warum sie sich jedoch gut ergänzen und für die Isotope Philosophie wertvolle Impulse liefern, soll im Folgenden erklärt werden.

Beuys wäre 100 geworden

… und sein Tod 1986 hat eine Lücke hinterlassen, die wir heute nur durch Wiederentdeckung und Wiedererweckung schließen können. Er hätte auch unserer Zeit viel zu sagen, bzw. hätte nie aufgehört, immer wieder Einwände zu veröffentlichen, mit denen unsere Zeit nicht so verloren in der Welt stünde. Aber wer weiß das schon so genau, vielleicht hätten ihn die späten 80er und die 90er Jahre auch einfach in der Überfülle des neoliberalen Wahns hinweggeschwemmt. Dann lieber den Kern seines Werkes erhalten und wirken lassen!

Beuys erneuerte den Auftrag der Kunst und vor allem erhöhte er die Bedeutung der Kunst für jeden Menschen. Seine Parolen Kunst=Kapital und Jeder Mensch ist ein Künstler weisen auf die Individualität und Kreativität eines selbstbestimmten Menschen hin, welche für die Isotope Philosophie so zentral sind.

Sicher, er war auch ein Archetyp – wurde als Schamane bezeichnet – trifft den Tarot-Typus des Jokers, der als ein unter seiner Anglerweste nackter Mensch den vielen nackten Kaisern unserer Welt den Spiegel vorhält. Aber er hatte einen Trumpf in seiner Hand: Den erneuerten Kunstbegriff, eine Kunst, könnte man sagen, die zum Lebenselixier wird, um den toten Materialismus und seine Begriffsstutzigkeit zu überwinden.

Aber niemandem erschließt sich heute auch nur eines der Beuysschen Kunstwerke – nehmen wir nur einmal den Schlitten mit der Filzdecke und der Taschenlampe – wenn man nicht in die Gedankenwelt und die Begriffskonstellationen eintaucht, in denen Beuys zu Hause war. Es sind Artefakte einer anderen Zeit, einer anderen Denkweise. Seine Denkweise war synergistisch, synästhetisch, vielfältig und vielschichtig immer um zentrale Materialien und Themen kreisend, um Sprachzerstörung, Intelligenzabbau, Verdummung der Menschen entgegenzuwirken.

Die Ideen der Sozialen Plastik, einer „Humanisierung des sozialen Lebens“ in Staat, Wirtschaft und Kultur, mögliche Alternativen zu Kapitalismus und Sozialismus wurden entwickelt, entwickelten ein Eigenleben und verliefen teilweise im Sande bzw. mündeten in die Gründung der Grünen (was auf das gleiche herausläuft). In einer Gesellschaft in der man heute offen von Alternativlosigkeit reden darf, wäre Beuys wahrlich ein schöner Impuls. Es ist ja nicht so, dass es an Ideen und Erkenntnissen zu Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit mangelt, man muss sie nur in der Masse der Dummheiten untergehen lassen. Und dann ist es höchste Zeit, sich wieder an einen Kern von zentralen Themen zu erinnern und neu zu beginnen.

Zeige Deine Wunde

Ein zentrales Werk und in seiner unverständlichen Brutalität immer noch fremd. Es muss hergeleitet werden als ein Impuls, eben nicht nur das Material sprechen zu lassen, den Vordergrund, sondern die Prozesse dahinter. Der Auftrag ist sehr eng verknüpft mit der zentralen Idee der Isotopen Philosophie: Es gibt keinen höheren Ansprechpartner als den Menschen – keinen Gott, keinen Engel, der diesen Zugang zum Mitmenschen, dem „Nächsten“ ersetzen könnte.

Können wir über Schmerz reden?
„Zeige deine Wunde! Werde so intim, dass du so viel Vertrauen hast, darüber zu sprechen und sie zu zeigen, weil genau in solchen Gesten liegt schon die Umkehr des Schmerzes, nämlich der Trost und vielleicht auch die Heilung.“

Isotope Philosophie will, dass der Mensch mit dem Menschen menschlich spricht, so hätte es Beuys auch gewollt. Orientiert am besonderen Menschen Jesus sagt Beuys: „Ob ich das nun will oder nicht: Das Wesen des Christus lebt in mir wie in jedem anderen Menschen. Ich möchte auf die Möglichkeit des Menschen aufmerksam machen, dass er sich jeweils selbst erlösen kann.“

Das sollte man nicht im landläufigen Sinne verstehen, als „ohne Gottes Hilfe versuchen“. Es ist vielmehr – so muss man Beuys interpretieren, wenn man sein Innenleben nur ein wenig erahnt – gemeint, dass gerade die Hinwendung zu Jesus, zu dem Ideal der Liebe, diese Möglichkeit eröffnet. Die Möglichkeit eben, seine Wunden zu meiner zu machen, die Wunde jedes anderen Menschen zu meiner zu machen. Vergebung und Heilung ist nur so möglich. Eine kurze Videosequenz zeigt einem dazu mehr als alle Worte: >Vergebung vor Gericht<

Den Impuls erneuern

Im Bild ist eines seiner letzten Werke zu sehen, die Capri-Batterie. Dies ist das Bindeglied zwischen ihm und Soddy (Geduld, weiter unten mehr…) und kann als Hinweis gedeutet werden, dass alle Energie von der Sonne kommt, durch die Natur der Pflanzenwelt dem Leben zugängig gemacht wird und schließlich in der Kultur des Menschen mit Bewusstsein erfüllt werden kann. Ein Kunstlicht als Ausdruck eines Kunst-Prozesses der Selbsterleuchtung, Selbsterlösung.

Joseph Beuys: „Der Mensch kann mit Wesen sprechen, die höher sind als sein kurzfristiger intellektueller Verstand. Er kann mit seinem Ich in Kontakt kommen, er kann mit einem Engel sprechen und damit ist ja das Bild des Menschen bis zum Gottesbegriff groß. Und ich möchte es nicht so klein halten, wie es der Materialismus hat schrumpfen lassen.“

So groß wird der Gottesbegriff bei Beuys, dass er in eine menschliche Haut passt!

Soddy bekam vor 100 Jahren den Nobelpreis für Chemie

Wir weisen auf Frederick Soddy hin, weil die Übersetzung seiner ökonomischen Texte ein Kernanliegen des Verlages ist.

Soddy (1877 bis 1956) war ein englischer Radiochemiker und nicht nur Nobelpreisträger für Chemie, sondern auch ein eigensinniger Quer- und vor allem feinsinniger Weit-Denker. Als überzeugter Individualist und tiefgründiger Wissenschaftler sah er mit brillianter Klarheit sowohl die Gefahren der Atomenergie als auch des Finanzsystems voraus.

Daraus präsentierte Soddy nach seinen Arbeiten zur Radiochemie und dem Nobelpreis eine in der Physik verwurzelte Perspektive auf die Ökonomie – insbesondere unter Berücksichtigung der Gesetze der Thermodynamik. Er kritisierte die Vorstellung von der Wirtschaft als eine Art Perpetuum mobile, also Konstrukte, in denen Maschinen Energie aus dem Nichts erzeugen oder ewig recyceln könnten. Er sah diesen Fehler einer ewig auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaft in dem Leben auf Kredit, bedingt durch die Arbeit auf der Basis eines Kreditgeldsystems, welches auf dem riesigen Energie-Kredit fossiler Brennstoffe beruht. Diese Kritik wird nun von seinen intellektuellen Erben in der ökologischen Ökonomie aufgegriffen. Sein Augenmaß wäre heute auf vielen Gebieten wieder vonnöten.

Ein Blick auf Soddys Leben

Im Jahr 1903 veröffentlichte Frederick Soddy seine Arbeiten über den Zerfall von Radium in das Edelgas Helium – ein guter Schritt voran im Verständnis der Atomphysik und des radioaktiven Zerfalls, welche er mit dem Schotten William Ramsay und dem Kanadier Ernest Rutherford in enger Zusammenarbeit bewerkstelligte. Soddy erhielt dann 1921 den Nobelpreis für Chemie für seine Beiträge zur Forschung an radioaktiven Substanzen und seine Entdeckungen zur Herkunft und Natur der Isotope.

Frustriert von den Bedingungen in Oxford und auch von der Arbeitsweise der Royal Society zog sich Soddy Mitte der 20er Jahre von Arbeiten in der Chemie zurück und vertiefte sich sowohl in mathematische Problemstellungen als auch in sozioökonomische Studien.

In dem 1926 erschienenen Werk Wealth, Virtual Wealth and Debt heißt es nach ausführlicher Analyse der wirtschaftlichen Zustände und den ökonomisch-politischen Zusammenhängen seiner Zeit, gegen Schluss der Ausführungen: „In den acht Jahren seit Ende des Krieges haben sich die Wolken wieder verdunkelt und die Leute ahnen schon, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ein neuer Krieg ausbricht, ungleich größer und grausamer.“

Diese Prophetie teilte er übrigens mit Silvio Gesell, der zur gleichen Zeit und auf Basis der gleichen Überlegungen zu dieser Schlussfolgerung gekommen war.

In The Role of Money (London, 1934) kritisiert er die mächtigen international verbundenen Bankhäuser, die mit ihrem Einfluss auf Kreditpolitik und Sparmaßnahmen ganz nach ihren Interessen >boom and bust< erzeugen und die Weltwirtschaft bzw. einzelne Länder in die Verelendung treiben.

Auch in Bezug auf die Wissenschaft war er zunehmend skeptisch geworden: Sein Vorwort zu den damals einflussreichen Aufsätzen im Band Frustration of Science (1935, Herausgeber: Sir David Hall) machte noch einmal sehr deutlich, wie groß seine Skepsis gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt war, welche Gefahren er für das menschliche Leben sah, mit den ungeheuren Kräften der Radioaktivität sinnvoll umzugehen. Er bemerkte zu Recht, dass diese Energie mit größerer Effizienz als die Energien aus Kohle nutzbar gemacht werden könnte und er erkannte auch frühzeitig, dass Volkswirtschaften, die auf nicht-erneuerbaren (also fossilen, aber auch radioaktiven) Brennstoffen basieren, letztlich selbstzerstörerisch sind.

Soddy sah auf beklemmende Weise das potentielle Gute wie auch das Grauen voraus, das sich aus der radioaktiven Energie ergibt und war von Hiroshima erschüttert. Wir werden Soddys Werke in diesem Jahr noch weiter präsentieren und seine Impulse auf die Nachhaltigkeitsökonomik aufzeigen und bewerten. Man könnte ihn den Wegbereiter einer naturwissenschaftlichen Ökonomie nennen.

Wie sich die Jubilare ergänzen

Unsere Protagonisten treffen sich komplementär in ihrer Arbeitsweise:

Beuys ist ein tief seelisch empfindender Künstler, der seine Werke in so großer Abstraktion erschafft, dass der Verstand des Rezipienten zunächst kapituliert und an der sich einer intellektuellen Analyse verschließenden Begriffs- und Formensprache verzweifelt. Das Kunstwerk verlangt danach, erst den Balken im eigenen Auge zu entfernen, um dann klar mit den Augen des Herzens zu sehen.

Soddy wiederum ist ein wissenschaftlicher Geist, der mit großer Klarheit in der Analyse und der Begriffsbildung voranschreitet und dann wiederum seelisch an den bereits absehbaren Folgen dieses intellektuellen Machtgewinns verzweifelt. Hier sieht der Rezipient auf Anhieb eigentlich klar vor Augen, wohin die Reise geht und ist gefordert, dies nicht nur analytisch zu erkennen, sondern auch im menschlichen Maß einzuordnen und handlungsfähig zu werden.

Eine Ökonomie der Nachhaltigkeit, eine Beschränkung der Geldmacht und eine Anwendung der Wissenschaft zum Guten, nicht zur Zerstörung, wird uns von Soddys lebendigem Beispiel abverlangt und von Beuys immer wieder angedacht und angemahnt. So haben wir hier eine Doppelspitze vor uns, denen wir dankbar zu ihrem Ehrenjahr gratulieren dürfen, denen wir uns weiter zuwenden und wieder hinwenden wollen.

„Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“
– George Bernard Shaw –

Danksagung 1: Dieser Artikel wurde unter Mithilfe meiner Schwiegermutter geschrieben, die meinen überaus quirligen Sohnemann während der Ausarbeitungsphase beschäftigte. 🤗 Danke!

Danksagung 2: Ich konnte nicht auch noch eine Dritte im Bunde in den Text einfügen, aber man muss 2021 auch an Sophie Scholl denken, die hier einen wunderbaren Nachruf erhalten hat. Auch sie wäre 100 geworden!