Die Freiheit der Ungläubigen

Eine Kontemplation über den FAZ-Leserbrief unseres Autors Joachim-Friedrich Kapp

Zum Jahreswechsel erschien in der FAZ ein Leserbrief aus der Feder unseres Autors Joachim-Friedrich Kapp mit dem Titel Der Mensch Jesus (Link hier) als Reaktion auf einen FAZ-Artikel über die neueste Allensbach-Umfrage zum Stellenwert des christlichen Glaubens in der Gesellschaft (Link hier). 

Vor einem Jahr erschien im Verlag ISOTOPE media das Buch „Der Mensch Jesus und der ungläubige Christ“ als persönliche Antwort auf die Frage eben dieses Unglaubens, der sich mittlerweile in der Gesellschaft breit gemacht hat. Unser Autor stellt nun in einem Leserbrief seine Gedanken zur Umfrage in diesen Kontext:

Die Ergebnisse der Allensbach Untersuchung, veröffentlicht unter dem Titel „Christliche Kultur ohne Christen“ (FAZ vom 22.12.21) wirken auf mich wie ein Paukenschlag. Wird die Kirche sie als Weckruf begreifen?
So wenige Menschen sagen von sich, sie seien gläubige Mitglieder der Kirche, es sind nur noch 23% der Katholiken und 12% der Protestanten. Aber wie lange hält man es aus, ein Glaubensbekenntnis zu sprechen, einen Glauben zu bekennen und zentrale Aussagen desselben nicht glauben zu können?
Am 24. Dezember feiern wir Christi Geburt, ein Ereignis, mit dem eine neue Zeitrechnung begonnen hat. Jesus soll und könnte unser Erlöser sein, wenn nur die Theologie nicht ein riesiges, philosophisches, mystisches Gedankengebäude um Gott und ihn herum errichtet hätte und die Gefahr besteht, dass seine Botschaft mit den Zweifeln an den Glaubensinhalten verloren geht.
Warum nicht sich auf Jesu Botschaften besinnen: Barmherzigkeit, Friedfertigkeit, Güte, Nächstenliebe und die unbedingte Forderung nach Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit. Für diese Botschaften sind gewiss die vielen „ungläubigen Christen“ empfänglich, denen die christlichen Wertvorstellungen nach wie vor viel bedeuten, die es wichtig finden, dass ihre Kinder religiös erzogen werden.

Was kann die Kirche für „ungläubige Christen“ tun? Diese fragen: Ist Gott oder ist er nicht? Hat Bonhoeffer recht, wenn er sagt: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“? Sollte man nicht aus dem Leben Jesu eine frohe Botschaft verkünden und sagen: „Jesus hat für Dich gelebt!“ statt: „Er ist für Dich gestorben.“?
Der Opfertod wegen unserer Sünden ist sehr schwierig zu verstehen. Ist Jesus nicht erst dann wirklich auferstanden und lebendig, wenn er in uns, in jedem von uns auferstanden ist? Sollte der Gottesdienst Jesu Botschaft nicht auch im Gebet und im Bekenntnis sehr viel stärker in den Vordergrund stellen?
Gott ist doch, so meint zumindest der ungläubige Christ, seit der Zeit der Aufklärung eine Idee, die große Idee der Vollkommenheit, eine liebende Kraft. Hat die Kirche überhaupt ein Interesse an „ungläubigen Christen“ oder sind diese längst verlorene Schafe?

Aus Sicht des Verlegers sind diesen Fragen folgende Gedanken aus der Isotopen Philosophie zur Seite zu stellen.

Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei jeder Religion um ein Gedankenkonstrukt zur Bildung einer (Glaubens-)Gemeinschaft handelt. In dieser ist es ein durchaus „normaler“ Zustand, sowohl gläubig als auch unkritisch zu sein. Denn der erste Schritt zur Kritik ist der, nicht mehr glauben zu können, sondern wissen zu wollen. Hier beginnt ein Denkprozess, der im Sinne der Isotopen Philosophie als Prozess der Individualisierung aus der Masse heraus verstanden wird.

Der Begriff „Individuum“ muss in Folge dessen so betrachtet werden, dass der Mensch hier zwar von der Masse oder eben der genannten Glaubensgemeinschaft getrennt ist (also aus dieser Perspektive ein „Dividuum“ darstellt), aber – da es sich bei jedem „Glauben“ um eine Fiktion handelt – von nun an ungeteilt von seiner wahren Natur als Wesen mit geistig-seelischem Ursprung zu Geltung kommen kann. Damit ist er als Individuum unteilbar mit aller Natur verwoben und nimmt am Lebensprozess teil: Dies ist synonym zum Begriff der „Auferstehung“ zu setzen.

In einer wissenschaftlichen Zivilisation besteht nun die größte Gefahr darin, dass der Mensch wiederum aufhört zu denken, weil er in einer materialistischen Philosophie das Leben nicht ausreichend verstehen kann und den Sinn nicht mehr findet. Dies liegt darin begründet, dass es den „Sinn“ nur als geistiges Prinzip gibt und ein Leben auf dem Boden des Materialismus an sich „sinnlos“ bleiben muss. Von daher versucht die Isotope Philosophie, über die Anbindung an die Natur wie auch an die geistigen Wurzeln, hier einen sinnerfüllten Weg zu finden.

Die Sinnlosigkeit zeigt sich heute darin, dass die Wissenschaft in weiten Teilen als Ersatzreligion dient und immer wieder ihre eigenen Prinzipien verleugnet, wenn sie Kritiker und Skeptiker ausgrenzt, wie es ganz extrem im Falle der Klimaschutzbewegung und (in Teilen) dem Corona-Kult passiert. Dies sind Beispiele für Pseudo- und Ersatz-Religionen, die ihre Funktion zur Steuerung der Masse ausüben. Eine individualistische wie auch wissenschaftliche Gesellschaft benötigt jedoch die Skepsis, das Denken und die Freiheit der Ungläubigen im Sinne einer Freiheit der Andersdenkenden (Rosa Luxemburg).

Wir sehen also in der Frage der Ungläubigen durchaus das Potenzial einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft hin zum freieren, nachdenklicheren und ehrlicheren Leben. Das Individuum ist ungeteilt von seinem natürlichen Wesensgefüge, das sich eben nicht in einem materialistischen, kollektiven Menschenbild erschöpft, sondern sich auf seine geistigen Wurzeln bezieht und daraus seine irdische Blüte entwickeln und in seinen Eigenheiten ausprägen will. Gelingt dies nicht, verwickelt sich der Mensch immer wieder in Glaubenssysteme, die weder ein Hinterfragen zulassen, noch eigenständige Gedanken und Empfindungen fördern.

Insofern ist die oben genannte Umfrage ein gutes Signal und der Leserbrief stellt daran die richtigen Fragen. Die Kirche hat darauf per se keine Antwort – was generell auf alle „Kirchen“ zutreffen muss. Eine Antwort liegt in der Isotopen Philosophie, die den individuellen Menschen im Mittelpunkt seiner vergänglichen Welterfahrung sieht. Dieser bildet sich seine persönliche ›Isotopie‹ im Gegensatz zu den kollektivistischen Konzepten von ›Utopie‹ und ›Dystopie‹.

Als Abschluss zwei Anregungen zur Lektüre:

Michael Esfeld: Sprachregime zeigt, wie Sprach-Codes der Gesellschaft aufgezwungen bzw. untergeschoben werden und damit das freie Denken blockiert wird. Wie lange sprechen die Menschen diese Sprache, bevor sie endgültig aufhören, das Gesagte zu glauben?

Joachim-Friedrich Kapp: Der Mensch Jesus und der ungläubige Christ beschreibt einen eigenen Zugang zum Jesus-Impuls, im Leben generell vorbildliche Eigenschaften zu vervollkommnen, jenseits der Glaubens- und Schuld-Konzepte der Kirche, deren Bekenntnis inzwischen zu entleerter Rhetorik geworden sind.

Addendum vom 13.01.2022

Über die Frage in welche Freiheit der Unglaube führt.

Bevor eine „Freiheit zu etwas“ entstehen kann, muss eine „Freiheit von etwas“ erreicht werden. Dieser erste Schritt wird erreicht durch die Beschäftigung mit dem 📋 Themenspektrum des Verlages, worin „innere“ und „äußere“ Freiheit – subsumiert als Freiheit von Konditionierungen – in den Fokus genommen werden.

Der dritte Punkt im Themenspektrum, die Verbindung mit der Natur, ist optional, denn selbstverständlich kann auch eine selbst gewählte Trennung von der Natur im Sinne einer „freien“ Kulturentwicklung eingeschlagen werden. Nur muss hierbei verstanden werden, dass diese Kultur nicht von sehr langer Dauer sein kann – wie auch immer man hier „Dauer“ definieren mag. Manche Illusionen können durchaus einige tausend Jahre aufrecht erhalten werden…

Jesus, um wieder auf ihn zu kommen, war eins mit der Natur, in Harmonie mit ihr. Er hatte nicht nur den direkten spirituellen, transzendenten Zugang zu seinen geistigen Wurzeln – dem Vater und dem Heiligen Geist (Inneres Ich und Höheres Selbst) – er hatte auch eine adäquate Vorstellung vom harmonischen Zusammenleben der Menschen: Eine ökonomische Vision, über die er vorerst nur mittels der Gleichnisse sprechen konnte!

Von den Naturwissenschaften geprägte Menschen, die alles für durchdringbar und diese Durchdringung in der Analyse (aus dem Griechischen „trennend, lösend“) für ausreichend halten, vergessen, dass wir Teil der Natur sind, mit ihr auf ewig verbunden. Und sie haben verlernt, in ihrer Schönheit, ihren Rätseln und Wundern das Göttliche zu erkennen und verkennen somit auch in sich selbst das göttliche Wunder.

Hier wird das Bedürfnis nach spiritueller Begriffsbildung erkennbar. Ob es einen „Königsweg ins Geistige“ (also im bisherigen Sprachgebrauch: dem „Göttlichen“) gibt, ist nicht einfach zu beantworten. Sicher erscheint dieser sehr nüchtern, wenn man alles nur mit Worten vermitteln möchte. Wie auf einem tatsächlichen Weg schreitet man am besten auf zwei Beinen voran: Auf einem intellektuell-erkennenden und einem emotional-intuitiven Fuß.

Dazu ein Beispiel anhand eines Zitates von Thomas Mann, welcher von einem Gefühl für das Transzendente spricht, einem

(…) Geheimnis des Menschen, von dem stolzen Bewusstsein, dass er kein bloß biologisches Wesen ist, sondern mit einem entscheidenden Teil seines Wesens einer geistigen Welt angehört; dass ihm das Absolute gegeben ist, die Gedanken der Wahrheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, dass ihm die Verpflichtung auferlegt ist zur Annäherung an das Vollkommene. In diesem Pathos, dieser Verpflichtung, dieser Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst ist Gott; in hundert Milliarden Milchstraßen kann ich ihn nicht finden.

(aus Der Mensch Jesus S. 149, nach Thomas Mann, Doktor Faustus)

Und noch ein Beispiel aus dem genannten Buch (Der Mensch Jesus, S. 126): Ronald Dworkin wendet sich deutlich gegen den „Trivialatheismus“ eines Richard Dawkins („Ich bin ein Gegner der Religion. Sie lehrt uns, damit zufrieden zu sein, dass wir die Welt nicht verstehen.“) und beschreibt eine Art von Religion ohne Gott, die aus dem Erkennen der Schönheit und Gesetzmäßigkeit des Universums und der Natur dieser Erde entsteht und eine große Verantwortung und ethische Verpflichtung des Menschen für sich selbst, seine Nächsten und diese Welt ableitet.

Und ganz ähnlich auch Einstein (a. a. O. S. 124):

Alle theologischen Glaubensinhalte bleiben bei der Frage, auf welche Weise der Mensch ein glückliches Leben führen kann, unberücksichtigt, denn sie führen zu keinen anderen Ergebnissen als zum Handeln aus Ehrfurcht vor dem Universum. Wie kann kosmische Religiosität von Mensch zu Mensch mitgeteilt werden, wenn sie doch zu keinem geformten Gottesbegriff und zu keiner Theologie führen kann? Es scheint mir, dass es die wichtigste Funktion der Kunst und der Wissenschaft ist, dies Gefühl unter den Empfänglichkeiten zu erwecken und lebendig zu erhalten.

Und um es im Reim vielleicht noch schöner auszumalen, einmal von Christian Morgenstern die letzten Zeilen des Epilogs aus der Gedichtesammlung In Phantas Schloss:

In tiefentzückten Weihestunden
fernab dem Staub der breiten Spur,
hab ich mich wieder heimgefunden
zum Mutterherzen der Natur!

In ihm ist alles groß und echt,
von gut und böse unentweiht:
Schönheit ist Kraft ihm, Kraft ihm Recht,
sein Pulsschlag ist die Ewigkeit.
 

Wen dieser Mutter Hände leiten
vom Heut ins Ewige hinein,
der lernt den Schritt des Siegers schreiten,
und Mensch sein heißt ihm König sein!

Morgenstern widmete diese Gedichte „Dem Geiste Friedrich Nietzsches“ und so muss der Anspruch „König zu sein“ im Lichte seiner Forderung nach dem „Willen zur Macht“ gesehen werden: Den Willen, sich selbst zu beherrschen und Macht über sein Leben zu haben. In diesem Sinne ist auch die Isotope Philosophie zu verstehen, die ebenfalls mit „Macht“ nicht die Macht über den Menschen meint, sondern über das eigene Leben, über die Dinge. Ein König ohne den Anspruch auf diese Freiheit ist kein König.

 

♠  Anmerkung: Das Bild zum Blog-Artikel ist eine Collage aus dem Fenster Gerhard Richters im Kölner Dom (auch Cover unseres Buches) und einem Standbild aus dem mystisch-mysteriösen Kurzfilm „I, Pet Goat II“ (Minute 5:07) vor dem Hintergrund eines Galaxie-Wirbels. Eine Christus-Figur zerstäubt hier eine Phalanx von „Grauen Herren“ (vergleiche diese Darstellung mit derjenigen in Michael Endes „Momo“) und läutet damit ein neues Zeitalter ein.